
Vor wenigen Tagen endete in Johannesburg der BRICS-Gipfel. Es ist bezeichnend für die Froschperspektive des westlichen Mainstreams, daß er davon nur wenig Notiz nimmt. Denn nur wenige Ereignisse werden die Landkarte des 21. Jahrhunderts mehr prägen als der Gipfel in Südafrika. Die Welt muß sich jetzt auf veränderte Gegebenheiten einstellen. Auch die EU wird davon unmittelbar betroffen sein, weil sich der Abstieg Europas in die zweite oder dritte Liga nun beschleunigen wird.
Der Paukenschlag kam zum Abschluß, am Donnerstag, als der südafrikanische Präsident Ramaphosa den Beitritt weiterer sechs Länder bekanntgab. Zum 1. Januar 2024 sollen Saudi-Arabien, Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Argentinien, Ägypten und Äthiopien aufgenommen werden. Südafrika hat derzeit den Vorsitz der BRICS-Gruppe inne, der bisher außerdem Brasilien, Rußland, Indien und China angehören.
Der Erweiterungsbeschluß ist vor allem ein Erfolg Chinas: Peking hat die Aufnahme neuer Mitglieder mit Nachdruck betrieben. Die Reaktionen sind unterschiedlich. Während aus dem „globalen Süden“ überwiegend Zustimmung kommt, versuchen westliche Medien und Politiker, den Erweiterungsbeschluß herunterzuspielen – wie etwa der US-Sicherheitsberater Jake Sullivan, der meinte, die BRICS seien kein geopolitischer Rivale der Amerikaner, weil ihre Interessen zu unterschiedlich seien. Doch das ist eher das berühmte Pfeifen im Walde.
Tatsächlich ist es erklärtes Ziel des künftigen BRICS+-Blocks, sich als Gegenmacht zur geopolitischen und wirtschaftlichen Dominanz des Westens zu formieren und den Ländern des globalen Südens und Ostens Entwicklungsperspektiven jenseits der einschlägigen westlichen Formate zu bieten, die zurecht als ungerecht empfunden werden. Die Voraussetzungen dafür sind gut, weil sich der BRICS-Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung in den letzten 25 Jahren kontinuierlich vergrößert hat, während der des Westens geschrumpft ist. Schon seit 2020 übertreffen die bisher fünf BRICS-Staaten die G7 in Bezug auf ihr gemeinsames Bruttoinlandsprodukt (BIP). Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird der BRICS-Block im laufenden Jahr 32,1 Prozent des globalen BIP erwirtschaften, die G7-Länder nur noch 29,9 Prozent. Im Jahr 1995 waren es erst 16,9 Prozent, gegenüber 44,9 der G7-Gruppe. Außerdem stellen die BRICS-Länder nach eigenen Angaben 42 Prozent der Weltbevölkerung und 30 Prozent der globalen Landfläche. Das sind Kennzahlen, die sich sehen lassen können.
Noch wichtiger ist, daß alle neuen Mitglieder Ölförderländer sind. Alle wichtigen Energieproduzenten der Welt befinden sich künftig unter dem Dach der BRICS+-Gruppe, die ab 2024 über stattliche 80 Prozent der weltweiten Ölproduktion verfügen wird. Ein geopolitisches Erdbeben bedeutet dabei insbesondere der Wechsel Saudi-Arabiens aus der amerikanischen Vormundschaft ins BRICS-Lager. Für die OPEC, das bisherige Ölkartell, ist dies gleichbedeutend mit dem Sturz in die Bedeutungslosigkeit. Die Preise an den Energiemärkten werden künftig nicht mehr von ihr, sondern vom BRICS-Block bestimmt. Weil die OPEC in den letzten Jahrzehnten eine zentrale Stütze der amerikanischen Welthegemonie war, wird auch diese durch die BRICS-Erweiterung unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen.
Auch hier ist die Handschrift Chinas zu erkennen. Erst vor wenigen Monaten hatte Peking, beachtlich genug, die Erzfeinde Iran und Saudi-Arabien an einen Tisch gebracht. Künftig bilden sie gemeinsam mit Rußland und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) die energiepolitische Achse der Welt von morgen.
Ihr wachsendes Gewicht will die BRICS+-Gruppe nun unter anderem bei den Vereinten Nationen in die Waagschale werfen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte im Anschluß an den Gipfel, man strebe eine Reform der UN an, insbesondere des Sicherheitsrats. Es sei nicht gerecht, wenn reiche Länder wie Deutschland oder Japan dort einen Sitz erhielten, während der globale Süden ausgeschlossen bleibe. Deutschland sei wie Japan nichts als der verlängerte Arm der USA. Auch bei den G7 müßten alle nach der Pfeife Washingtons tanzen. Aus Lawrows Worten war unschwer herauszuhören, daß man diese Schieflage nicht mehr lange akzeptieren werde. Es ist absehbhar, daß es früher oder später zur Gründung einer „alternativen UN“ kommen wird, die die Ordnung von Jalta endgültig unter sich begraben wird.
Die Welt des 21. Jahrhunderts wird nun deutlich multipolarer werden. Schon in der Vergangenheit setzten die BRICS-Länder häufig andere Prioritäten als der Westen. Keines der BRICS-Mitglieder hat den russischen Einmarsch in die Ukraine verurteilt oder sich den westlichen Sanktionen angeschlossen. Die Gräben dürften künftig noch tiefer werden, weil das in der BRICS+-Gruppe zusammenschlossene Drittel der Welt insbesondere nichts von den „westlichen Werten“ hält – also in erster Linie einer aufdringlichen LGBTI-, Schwulen- und Menschenrechtspropaganda. Der saudische Außenminister Prinz Faisal bin Farhan brachte die BRICS-Gemeinschaft ausdrücklich als Alternative zum „Wertewesten“ ins Gespräch. Er unterstrich, daß „die besonderen strategischen Beziehungen mit den BRICS-Staaten gemeinsame Prinzipien fördern, vor allem den festen Glauben an den Grundsatz der Achtung der Souveränität, der Unabhängigkeit und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“. Dafür ist es hoch an der Zeit.
Eine zentrale Agenda der BRICS-Allianz ist die „Ent-Dollarisierung“ – die Umstellung der internationalen Handelsbeziehungen auf neue Zahlungsmodalitäten unter Umgehung des US-Dollars. Hier liegt eine geradezu tödliche Herausforderung für die dollar-basierte Weltordnung. Südafrikas Präsident Ramaphosa erklärte in Johannesburg, nach Auffassung der BRICS-Staats- und Regierungschefs sei es nunmehr an der Zeit, lokale Währungen und alternative Zahlungssysteme zu verwenden. Das kommt einer Kriegserklärung an den Dollar gleich. Schon US-Präsident Trump hatte vor dieser Entwicklung gewarnt und gemahnt: verlöre der US-Dollar seinen Status als Weltreservewährung, sei das „schlimmer als jeden Krieg zu verlieren“.
Doch dieser Prozeß wird sich kaum noch aufhalten lassen – vermutlich nicht einmal mehr um den Preis eines vom Westen entfesselten Großkrieges. BRICS+ wird die Dollar-Hegemonie der USA in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eintrocknen wie ein Krebsgeschwür, das man aushungern läßt. China bezahlt sein aus Saudi-Arabien eingeführtes Öl bereits in Renminbi, Indien seine Importe aus den Vereinigten Arabischen Emiraten in Rupien. Der russische Export wird inzwischen überwiegend in Rubel abgewickelt, während der russisch-chinesische Handel immer neue Rekordmarken erklimmt – übrigens alles eine Folge der westlichen Sanktionen und des Ausschlusses Rußlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem. Den Dollar braucht es bei alledem nicht mehr. Seine Tage als globale Leit- und Reservewährung sind gezählt.
Schon die nähere Zukunft wird nun äußerst spannend. Die Tektonik der internationalen Ordnung ist in Bewegung geraten. Dabei steht die BRICS-Gruppe mit dem Erweiterungsbeschluß von Johannesburg gerade erst am Anfang einer neuen, dynamischen Phase ihrer Entwicklung. Schon ist die Rede davon, daß noch zahlreiche weitere Neumitglieder aufgenommen werden sollen. Rund 40 (!) Staaten haben mehr oder weniger verbindlich ihr Interesse an einer BRICS-Mitgliedschaft bekundet, 23 davon konkret. Zu diesem Kreis zählen Algerien, Kuwait, Bangladesch, Venezuela und Thailand. Die Beitrittskriterien wurden noch nicht öffentlich verkündet.
Aber der BRICS-Zug nimmt nun Fahrt auf. Der Westen kann von Glück reden, wenn er nicht vollends unter die Räder gerät. Sein Sturz in die Bedeutungslosigkeit ist hochverdient.
Karl Richter